8
Maigret spielt nicht mehr
Die Taxichauffeure, die am Montmartre nachts im Einsatz sind, verstehen jede Andeutung, ja verstehen sogar, wenn man ihnen nichts sagt.
Als der Schuß ertönte, öffnete einer von ihnen, die vor dem Pickwick’s stationiert waren, seinen Wagenschlag, um Maigret einsteigen zu lassen. Er wußte nicht, um wen es sich handelte. Sah er an dessen Haltung, daß er es mit einem Kriminalbeamten zu tun hatte?
Die Gäste einer gegenüberliegenden kleinen Bar liefen herbei. In wenigen Augenblicken hatte sich eine Menschenansammlung um den Verwundeten gebildet. Sofort half der Mann dem Portier, der den Kommissar stützte, aber nicht wußte, was er mit ihm machen sollte. Und knapp eine halbe Minute später fuhr das Auto davon. Maigret lag in den Polstern.
Die Fahrt dauerte etwa zehn Minuten, dann hielt der Wagen in einer einsamen Straße. Der Chauffeur stieg aus, öffnete die Tür und sah seinen Fahrgast fast normal dasitzen, nur eine Hand hatte er unter die Jacke geschoben.
»Ich dachte mir schon, daß es nicht so schlimm ist. Wo soll ich Sie hinbringen?«
Maigret machte dennoch ein etwas bestürztes Gesicht, und zwar gerade weil die Verletzung nur äußerlich war. Das Fleisch an seiner Brust war zerfetzt. Die Kugel hatte eine Rippe gestreift und war nahe am Schulterblatt wieder ausgetreten.
»Polizeipräsidium …«
Der Chauffeur brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Unterwegs besann sich der Kommissar eines anderen.
»Zum Majestic … Setzen Sie mich vor dem Lieferanteneingang ab, Rue de Ponthieu …«
Er hatte sein zusammengerolltes Taschentuch auf die Wunde gelegt und stellte fest, daß sie nicht mehr blutete.
Je mehr sie sich dem Herzen von Paris näherten, desto weniger drückten seine Züge Schmerz, dafür aber wachsende Unruhe aus.
Der Chauffeur wollte ihm beim Aussteigen behilflich sein. Doch der Kommissar schob ihn beiseite und überquerte mit sicherem Schritt den Bürgersteig. In einem schmalen Flur fand er hinter seinem Schalter den schläfrigen Portier.
»Ist etwas vorgefallen?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Es war kalt. Maigret ging noch einmal zurück, um den Taxifahrer zu bezahlen, der etwas murrte, weil er für die Glanzleistung, die er vollbracht hatte, nur hundert Francs erhielt.
So wie er war, machte Maigret eine eindrucksvolle Figur. Mit der Hand drückte er noch immer das Taschentuch unter der Kleidung an die Brust. Eine Schulter hielt er höher als die andere, und trotz aller Pflichten nahm er sich vor, mit seinen Kräften hauszuhalten. Er fühlte sich ein wenig benommen. Manchmal hatte er den Eindruck, zu schweben, und er mußte sich zusammenreißen, um sich wieder zu fangen und die Klarheit seiner Wahrnehmung und Bewegungen wiederzuerlangen.
Er erreichte eine Eisentreppe, die zu den Obergeschossen führte, öffnete eine Tür, gelangte in einen Flur, verlor sich in einem Labyrinth von Gängen, fand zu einer anderen Treppe, die der ersten aufs Haar glich, aber eine andere Nummer hatte.
Er irrte in den Kulissen des Hotels umher. Glücklicherweise begegnete er irgendwo einem Koch mit weißer Mütze, der ihn entsetzt näherkommen sah.
»Führen Sie mich in den ersten Stock … In die Nähe des Appartements von Herrn Mortimer.«
Doch erstens kannte der Koch die Namen der Gäste nicht, und zweitens war er durch den Anblick von fünf Blutflecken verwirrt, die Maigret auf dem Gesicht hatte, seit er sich mit der Hand darübergefahren war.
Dieser Koloß im Netz enger Versorgungsgänge mit seinem lose über die Schultern geworfenen schwarzen Mantel, die Hand fest auf die Brust gedrückt, so daß Weste und Jacke verformt waren, brachte ihn aus der Fassung.
»Polizei!« sagte Maigret ungeduldig.
Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die Wunde brannte, als würde sie von langen Nadeln durchbohrt.
Ohne sich umzudrehen, setzte sich der Koch endlich in Bewegung. Wenig später spürte Maigret Teppiche unter den Füßen. Er begriff, daß er den Personaltrakt verlassen hatte und im eigentlichen Hotel war. Er sah nach den Zimmernummern. Er befand sich auf der Seite mit den ungeraden Zahlen.
Schließlich entdeckte er ein Zimmermädchen, das bei seinem Anblick heftig erschrak.
»Das Zimmer von Mortimer?«
»Unten … Aber … Sie …«
Während er die Treppe hinunterging, verbreitete sich unter dem Personal das Gerücht, daß ein sonderbarer, verletzter, gespenstisch aussehender Mann durch das Haus irre.
Er lehnte sich einen Augenblick an die Wand, hinterließ einen Blutfleck, und drei kleine, ganz dunkelrote Tropfen fielen auf den Teppich.
Dann gewahrte er endlich das Appartement der Mortimers und daneben das Zimmer, in dem sich Torrence aufhielt. Leicht taumelnd erreichte er diese Tür, stieß sie auf …
»Torrence! …«
Das Zimmer war erleuchtet. Der Tisch stand noch immer voller Speisen und Flaschen.
Maigrets dichte Augenbrauen zogen sich zusammen. Er sah seinen Kollegen nicht. Statt dessen hing ein Geruch wie nach Krankenhaus im Raum.
Er machte noch ein paar schwankende Schritte. Und plötzlich blieb er vor einem Sofa stehen.
Ein Fuß mit einem schwarzen Lederschuh ragte darunter hervor.
Drei Anläufe mußte er machen, denn sobald er seine Hand von der Wunde zog, begann das Blut beunruhigend stark zu fließen.
Schließlich nahm er eine Serviette vom Tisch und klemmte sie unter seine Weste, die er fest zuknöpfte. Von dem Geruch in diesem Zimmer wurde ihm übel.
Mit schwachem Griff hob er das Sofa an der einen Seite an und drehte es auf zwei Füßen herum.
Wie er vermutet hatte, lag dort Torrence, zusammengekrümmt, einen Arm umgebogen, als habe man ihm die Glieder gebrochen, um ihn auf schmalem Raum einzupferchen.
Eine Binde verdeckte den unteren Teil des Gesichts, war aber nicht zugeknotet. Maigret kniete sich hin.
All seine Bewegungen waren ruhig, ja langsam, zweifellos wegen seines eigenen Zustandes. Seine Hand zögerte, die Brust abzutasten. Und als sie die Herzgegend erreicht hatte, erstarrte der Kommissar, blieb unbeweglich auf dem Teppich knien und stierte auf seinen Mitarbeiter.
Torrence war tot. Maigrets Mund verzog sich unmerklich. Seine Hand ballte sich zur Faust. Und während seine Augen trübe wurden, stieß er einen schrecklichen Fluch in die Stille des geschlossenen Zimmers.
Es hätte komisch wirken können. Aber nein! Es war fürchterlich! Es war tragisch! Es war erschreckend!
Maigrets Gesicht war hart geworden. Er weinte nicht. Das hätte er nicht vermocht. Aber seine Züge drückten eine solche Wut, einen derartigen Schmerz und gleichzeitig ein Erstaunen aus, daß es an Stumpfsinn grenzte.
Torrence war dreißig Jahre alt. Seit fünf Jahren arbeitete er sozusagen nur noch mit dem Kommissar zusammen.
Sein Mund stand offen, als habe er noch eine verzweifelte Anstrengung unternommen, um nach Luft zu schnappen.
In der oberen Etage, genau über dem Toten, zog ein Reisender seine Schuhe aus.
Maigret blickte um sich, auf der Suche nach einem Gegner. Er atmete schwer.
So vergingen ein paar Minuten, und als er sich erhob, spürte er etwas tückisch in seinem Organismus weiterarbeiten.
Er wandte sich zum Fenster, öffnete es und sah auf die leere Fahrbahn der Champs-Elysées. Einen Augenblick kühlte er seine Stirn an der frischen Luft, dann hob er die Binde auf, die er von Torrences Gesicht genommen hatte.
Es war eine Damastserviette mit dem Monogramm des Majestic. Sie strömte noch immer einen starken Chloroformgeruch aus. Maigret blieb stehen, sein Kopf war leer, und nur ein paar unformulierte Gedanken stießen in dieser Leere mit schmerzhaftem Widerhall aufeinander.
Noch einmal lehnte er sich wie zuvor auf dem Flur mit der Schulter an die Wand, und sein Gesicht verfiel plötzlich zusehends. Er schien gealtert, entmutigt. Vielleicht war er in diesem Moment nahe daran, in Schluchzen auszubrechen. Aber er war zu groß, zu massiv, aus zu hartem Holz.
Das Sofa stand quer, berührte den unabgeräumten Tisch, wo auf einem Teller zwischen den Hühnerknochen Zigarettenkippen herumlagen.
Der Kommissar streckte seine Hand nach dem Telefon aus. Aber er beruhte es nicht, schnippte wütend mit den Fingern, ging zu der Leiche zurück und starrte sie an.
Mit einem bitter-ironischen Grinsen dachte er an die Vorschriften, an die Staatsanwaltschaft, an Formalitäten und Vorsichtsmaßnahmen, die zu treffen waren.
Doch zählte das? Es ging um Torrence. Und das war genauso, als ob es ihn selbst betraf.
Torrence gehörte zur Polizei, er …
Maigret knöpfte bei allem Anschein der Ruhe die Weste so fieberhaft auf, daß zwei Knöpfe abrissen. Dann sah er etwas, und er wurde bleich.
Auf dem Hemd war in der Höhe der Herzmitte ein kleiner brauner Fleck.
Nicht einmal so groß wie eine Erbse. Ein einziger Blutstropfen war herausgequollen und zu einem stecknadelkopfgroßen Klümpchen geronnen.
Die Augen des Kommissars trübten sich, sein Gesicht, war von einer Empörung gezeichnet, für die die Worte fehlten.
Es war widerlich und dennoch der Gipfel verbrecherischer Geschicklichkeit! Er brauchte nicht länger zu suchen. Er kannte das Verfahren, von dem er wenige Monate zuvor in einer deutschen Kriminalzeitschrift gelesen hatte.
Die chloroformgetränkte Serviette macht das Opfer zunächst in zwanzig oder dreißig Sekunden bewußtlos. Dann führt der Mörder in aller Ruhe eine lange Nadel zwischen zwei Rippen zum Herz hindurch und tötet so, geräuschlos und ohne Spuren zu hinterlassen.
Genau das gleiche Verbrechen war vor sechs Monaten in Hamburg begangen worden.
Eine Kugel kann ihr Ziel verfehlen oder nur verwunden. Maigret war der Beweis dafür. Sie ist laut und macht schmutzig.
Die Nadel, die man einem reglosen Menschen ins Herz sticht, führt wissenschaftlich einwandfrei den Tod herbei.
Der Kommissar erinnerte sich an ein Detail. Am Abend, als der Geschäftsführer den Aufbruch der Mortimers angekündigt hatte, nagte er an einer Hühnerkeule, saß auf der Heizung und war in einem Anflug des Wohlbefindens nahe daran gewesen, selbst im Hotel Wache zu halten und Torrence ins Theater zu schicken.
Dieser Gedanke bewegte ihn. Beschämt blickte er auf seinen Kollegen und verspürte ein allgemeines Unbehagen, von dem er nicht sagen konnte, ob es von seiner Verwundung, der Erregung oder den Chloroformdünsten herrührte.
Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, eine richtige, vorschriftsmäßige Untersuchung einzuleiten.
Da lag Torrence. Torrence, mit dem er alle Untersuchungen der letzten Jahre durchgeführt hatte. Torrence, dem er nur ein Wort zu sagen, ein Zeichen zu geben brauchte, um sich verständlich zu machen.
Torrence, dessen Mund offenstand, als wollte er versuchen, noch ein bißchen Sauerstoff einzuatmen, ja sogar zu leben. Und Maigret, der nicht weinen konnte, fühlte sich krank, beunruhigt, mit einer Last auf seinen Schultern und Übelkeit im Magen.
Wieder ging er zum Telefon. Er sprach so leise, daß man ihn zweimal bitten mußte, den Teilnehmer zu wiederholen.
»Das Polizeipräsidium … Ja … Hallo! … Das Polizeipräsidium … Ja, wer ist am Apparat? … Wie? … Tarraud? … Hören Sie … Sie laufen zum Chef … Ja, zu ihm … Sagen Sie ihm … Sagen Sie ihm, er soll zu mir ins Majestic kommen … Sofort … Zimmer … Ich weiß die Nummer nicht, aber man wird ihn schon hinführen … Wie? … Nein, nichts weiter … Hallo! … Was sagen Sie? … Nein, ich habe nichts …«
Er legte auf, denn sein Kollege stellte Fragen, fand seine Stimme merkwürdig und den Auftrag noch merkwürdiger.
Einen Augenblick blieb er mit herabhängenden Armen stehen. Er vermied es, in die Ecke zu schauen, wo Torrence lag. In einem Spiegel sah er sein Bild und stellte fest, daß das Blut durch die Serviette gedrungen war. Darauf zog er mit großer Mühe seine Jacke aus.
Als eine Stunde später der Leiter der Kriminalabteilung in Begleitung eines Hotelangestellten, der ihm den Weg gewiesen hatte, an die Tür klopfte, sah er den Schatten Maigrets, der sich in dem schmalen Türspalt abzeichnete.
»Sie können gehen!« sagte der Kommissar mit schleppender Stimme zu dem Angestellten.
Und er öffnete die Tür vollends, als der Mann sich entfernt hatte. Da erst merkte der Chef, daß Maigrets Oberkörper nackt war. Die Badezimmertür stand weit offen. Auf dem Boden befanden sich rötliche Wasserlachen.
»Machen Sie schnell zu!« sagte der Kommissar, ohne auf Rangunterschiede Rücksicht zu nehmen.
Er hatte eine sehr lange, geschwollene Wunde an der rechten Brustseite. Seine Hosenträger hingen auf die Schenkel herab.
Er wies mit dem Kopf auf die Ecke, in der Torrence lag, und legte einen Finger an die Lippen.
»Psst!«
Den Chef überlief ein Schauder. Plötzlich beunruhigt, fragte er:
»Tot?«
Maigret nickte.
»Wollen Sie mir zur Hand gehen, Chef?« murmelte er matt.
»Aber … Sie … Das sieht ja böse aus!«
»Psst! … Die Kugel ist draußen, das ist die Hauptsache! … Helfen Sie mir, das Tischtuch darumzuwickeln …«
Er hatte das Geschirr auf den Boden gestellt und das Tischtuch entzweigeschnitten.
»Die Bande des Letten …«, erklärte er. »Sie haben mich verfehlt … Aber meinen guten Torrence haben sie nicht verfehlt …«
»Haben Sie die Wunde desinfiziert?«
»Ja, mit Seife und dann mit Jodtinktur.«
»Sie glauben, daß …«
»Das genügt für den Augenblick! … Eine Nadel, Chef! … Sie haben ihn mit einer Nadel getötet, nachdem sie ihn eingeschläfert haben …«
Er war nicht mehr derselbe Mann. Man hatte den Eindruck, ihn durch einen Tüllvorhang zu sehen und zu hören, der Bilder und Laute dämpfte.
»Reichen Sie mir mein Hemd …«
Eine gleichgültige Stimme. Gemäßigte, ungenaue Bewegungen. Ein ausdrucksloses Gesicht.
»Sie mußten herkommen … Da es sich um einen von uns handelt … Abgesehen davon, daß ich jedes Aufsehen vermeiden wollte … Man soll ihn gleich abholen … Kein Wort in den Zeitungen … Sie haben doch Vertrauen in mich, nicht wahr, Chef?«
Trotzdem war ein kaum wahrnehmbares Zittern in seiner Stimme. Das rührte seinen Gesprächspartner, der ihm die Hand reichte.
»Aber Maigret! … Was haben Sie denn?«
»Nichts … Ich bin ganz ruhig, das schwöre ich Ihnen. Ich glaube, ich bin nie so ruhig gewesen. Aber jetzt ist das eine Sache zwischen denen und mir … Sie werden verstehen …«
Sein Vorgesetzter half ihm, seine Weste, seine Jacke anzuziehen. Maigret wirkte durch den Verband unförmig, der seine Taille aufpolsterte und ihm die klaren Linien seiner Figur nahm, so daß er Fettwülste zu haben schien.
Er schaute in den Spiegel und zog eine spöttische Grimasse. Er spürte die Weichlichkeit seiner Haltung. Das war nicht mehr der harte, riesige Brocken aus einem Guß, den er vor seinen Gegnern aufzubauen liebte.
Das bleiche, stellenweise rotgefleckte Gesicht wirkte aufgedunsen, und zunehmend bildeten sich Säcke unter den Augen.
»Danke, Chef! Sie meinen, daß es gehen wird, was Torrence anbelangt?«
»Die Öffentlichkeit auszuschließen, ja … Ich werde die Staatsanwaltschaft benachrichtigen … Mit dem Staatsanwalt rede ich persönlich.«
»Gut! Dann mache ich mich an die Arbeit.«
Während er das sagte, strich er sein Haar etwas glatt. Dann trat er zu dem Toten, zögerte und fragte:
»Ich kann ihm doch die Augen zudrücken? … Ich glaube, es wäre ihm lieber, wenn ich das tue …«
Seine Finger zitterten. Er ließ sie ein Weilchen als zärtliche Geste auf den Lidern des Toten ruhen. Sein Vorgesetzter drängte ihn unruhig:
»Maigret! …«
Der Kommissar erhob sich und sah sich ein letztes Mal um.
»Auf Wiedersehen, Chef! Sagen Sie meiner Frau lieber nicht, daß ich verletzt bin …«
Seine Gestalt füllte für einen Augenblick den ganzen Türrahmen aus. Der Leiter der Kriminalabteilung hätte ihn beinah noch einmal zurückgerufen, denn er machte sich Sorgen um ihn.
Während des Krieges hatten sich seine Waffenkameraden mit der gleichen Ruhe, der gleichen unnatürlichen Sanftheit von ihm verabschiedet, bevor sie zum Angriff antraten.
Und sie waren nie wiedergekommen!